Eine Feder für Naléh Drucken


Nur noch schnell die Ziegen in den Pferch und dann nichts wie ab zum Essen. Nahléhs Magen knurrte fordernd und der Junge beschleunigte seinen Schritt. Der trockene Boden staubte unter seinen Ledersandalen und verlockender Duft von frischgekochtem Hirsebrei stieg in die Nase.
Seit Beginn der großen Trockenheit weiteten sich seine täglichen Wanderungen aus, denn es wurde immer schwieriger geeignete Plätze für die genügsamen Tiere zu finden. Umso mehr freute er sich jetzt auf das gemeinsame Mahl mit der ganzen Sippe.
Am nächsten Morgen machte er sich erneut auf den Weg, aber dieses Mal traf es ihn besonders hart. Die letzte Wasserstelle war vertrocknet. Naléh erhob ehrfurchtsvoll seine Augen gegen den wolkenlosen Himmel:
„Allah, der du so mächtig bist und unsere Schritte lenkst, bitte schenke mir Wasser für die Tiere.“
Wie zur Unterstützung fühlte er einen sanften Stups an seinem rechten Bein.
„Ach, du bist es, meine kleine braun-weiße Lieblingsziege, ja, komm lass uns noch ein wenig weiterziehen. Mit Allahs Hilfe werden wir eine Lösung finden.“ So zog der Junge mit den Ziegen gegen Norden, der Hügelkette des Molanggebirges entgegen. Heute würde er den Rückweg zum Dorf nicht mehr schaffen, und er beschloss nach einem geeigneten Rastplatz für die Nacht Ausschau zu halten. Plötzlich vernahm er ein raschelndes, zischendes Geräusch und sah eine Schlange, die gerade einen blauen Vogel überwältigen wollte. Der rechte Flügel hing schon schlaff herab und sein Lebenswille schien zu schwinden.
Naléh überlegte nicht lange sprang mit wenigen Schritten an die Schlange heran und schleuderte sie mit seinem Hirtenstab in das nächstgelegene Gebüsch. Sanft hob er den Vogel auf, verband ihm seinen verletzten Flügel und strich ihm liebevoll über das Federkleid. Er teilte mit ihm sein letztes Wasser aus dem Lederbeutel und meinte:
„Fürchte dich nicht, du kleiner, mutiger Freund, heute Nacht halte ich für dich Wache.“
Doch die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut und in den frühen Morgenstunden übermannte Naléh der Schlaf. Als er erwachte, war dieser sonderbare Vogel verschwunden, nur eine kleine blaue Feder war zurückgeblieben. Vorsichtig legte er sie in seine Handfläche um ihre Feinheit besser betrachten zu können. Mit einem Male vernahm er eine melodische, liebliche Stimme:
„Naléh, mein Freund, der du mir Hilfe und Freundschaft gewährt hast, dir schenke ich diese Feder. Sie wird dich und deine Tiere zu einer verborgenen Quelle führen, damit ihr keinen Durst mehr leiden müsst.“ Und noch ehe der Junge darüber nachdenken konnte, erfasste ein Windhauch dieses kostbare Geschenk und hob es in die Luft. Eilends trieb der Junge seine Tiere zusammen und sie folgten der tänzelnden Wunderfeder über schroffe Felsen immer höher ins Gebirge hinein. Und wirklich, in einer Felsspalte entdeckten sie eine kleine Quelle. Dankend, mit Tränen in den Augen genoss Naléh dieses belebende Nass und versorgte seine Tiere.
Und die Feder? Naléh trägt sie noch heute als Geschenk des Himmels in seinem Brustbeutel bei sich.

© Heidemarie Andrea Sattler